RHEINISCHE POST
FEUILLETON
Bischof von Myra: der volkstümlichste aller Heiligen
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Gebeine entführt
Nikolaus half bei Nacht und Nebel
Er ist der volkstümlichste aller Heiligen. Ein Mann, der als durch
und durch gutmütiger Mensch beschrieben und in wahrhaft, ökumenischem
Sinn geliebt, geachtet und verehrt wird: St. Nikolaus. Um seine Gestalt
ranken sich zahlreiche Legenden, in die auch Züge aus den Lebensgeschichten
gleichnamiger Heiliger eingingen, wie des Abtes Nikolaus von Sion (6.
Jahrhundert). St. Nikolaus gilt als Patron vieler: Kinder, Schüler, Seeleute
und Bäcker beten zu ihm.
Bei dem am meisten verehrten Heiligen der Christenheit handelt
es sich um den etwa 342 gestorbenen Bischof von Myra. Sein Todestag soll
der 6. Dezember gewesen sein. Die Stadt Myra, heute Kale, liegt an der
Mittelmeerküste im Süden der Türkei zwischen den heutigen
Touristenhochburgen Antalya und Fethiye.
So dürftig die Daten seines Lebens auch sind, so üppig
ist die Anzahl der Legenden, die sich um St. Nikolaus drehen, Die meisten
seiner Taten waren gut durchdachte Nacht-und-Nebel-Aktionen wie
die Bewahrung dreier Nachbarstöchter vor der Prostitution. Durch
ein Geschenk, drei goldene Äpfel, die Nikolaus heimlich in der Dunkelheit
ins Haus der Jungfrauen legte, verzichtete der Vater auf den Plan, diese
zu verkaufen, um den Lebensunterhalt zu sichern. Auf diese Legende ist
das heimliche Schenken in der Nacht vor dem Nikolaustag zurückzuführen.
Auch wenn die "Stutenkerle" schon in St. Martins-Tüten gepackt werden,
der Ursprung des auch als "Weckmänner" bezeichneten Gebäcks liegt bei
St. Nikolaus.
Als eine Hungersnot in Myra ausgebrochen war, legten kaiserliche
Getreideschiffe im Hafen der Stadt an, die Schutz vor einem Sturm suchten.
Alles Bitten und Betteln der Bürger half nichts, die Schiffer blieben hart
und die Laderäume zu. Bis eben der Bischof selbst anklopfte und die Herzen
erweichte. Ausreichend Getreide zum Backen und für die Saat bekamen
die Bürger Myras. Die Legende besagt weiter, daß, als die Schiffe im
Heimathafen einliefen, die Ladung auf wundersame Weise wieder auf das
ursprünglicbe Gewicht angewachsen war.
Weitere Legenden kreisen um die Heilung von Kranken sowie die Rettung
von Seefahrern. Auf der Fahrt eines Schiffs nach Palästina soll Nikolaus
der Besatzung erschienen sein und sie vor dem Untergang bewahrt haben.
"Nikolaikirchen" erinnern noch heute in den Hafenstädten der Hanse an
ihre frühere Aufgabe als Leuchttürme. Ebenso wie die Bischofskirche von
Myra gaben sie den Seefahrern Orientierungshilfen. Als Patron der
Schüler gilt St. Nikolaus, weil er nach einer Erzählung drei Klosterschüler,
die auf der Reise von einem Wirt ermordet und anschließend in einem Faß
eingepökelt wurden, wieder zum Leben erweckte.
700 Jahre nach seinem Tod waren es nicht die Taten, Legenden und Sagen,
die die Bevölkerung bewegten, sondern die sterblichen Überreste von
St. Nikolaus. Kaufleute aus Bari stahlen 1087 in Gangster-Manier die
Gebeine des Bischofs aus der Kirche zu Myra, um sie nach Italien zu bringen.
Wer also heute die Grabstelle in Kale besucht, die als touristisches Muß
bei fast jeder Rundfahrt im Programm ist, kann sicher sein:
Das Grab ist leer. PETER JANSSEN - Rheinische Post 06.12.1997