Rheinische Post - Mönchengladbacher Stadtpost - Samstag, 17. August 2019

Das Dorf in mir

Nach der Schulzeit in Mönchengladbach habe ich das Abenteuer in Hamburg gesucht. Dort lebe ich noch immer, doch meine Wurzeln in Hardt trage ich in mir - auch wenn das in der Großstadt nicht jeder versteht. Eine Heimatgeschichte.


von Pauline Schrammen

Mönchengladbach (RP). Mein Papa pflegt das Sprichwort: "Rom, Venedig und Hardt - einzig in ihrer Art." Er hat Recht, er ist dort aufgewachsen, und ich bin es auch. Hardt, das ist ein 8000-Einwohner-Dorf, zehn Kilometer von der Innenstadt Mönchengladbachs entfernt, wo die Seele von Borussia Mönchengladbach schlägt und jeder Rheinländer genauso lacht wie ich: laut und eigentlich immer. Dort weiß jeder, dass Heimat unabhängig von Schönheit ist - sondern abhängig von Gemeinschaft.

In meinem Dorf war ich oft bei meinen Großeltern, die früher eine Dorfmetzgerei betrieben. Mit meiner Oma ging ich häufig in Sonntagskleidung in die katholische St.-Nikolaus-Kirche, obwohl ich evangelisch war und meine Eltern kaum religiös. Danach machten wir Spaziergänge mit ihren alten Freundinnen durch den Hardter Wald. Als sie starb, bestand der Trauerzug aus gefühlt einem Achtel des Dorfes - und sie war eine ganz einfache Frau, eine Verkäuferin in der Metzgerei ihres Mannes. Die Gemeinschaft Hardt hatte eine nicht ersetzbare Freundin verloren.

Die Familie der Schwester meines Vaters wohnte keine drei Minuten zu Fuß entfernt. An Wochenenden freute ich mich über die Besuche meiner Cousinen oder besuchte sie in ihren Studienorten: Münster und Aachen, ein bis zwei Stunden Bahnfahrt entfernt. Sie gingen mit mir, dem kleinen Mädchen, ein ganzes Wochenende in den Zoo, in die Mensa, an den See, anstatt mit ihren Unifreunden durch Bars zu ziehen. Jeder Mensch meiner Familie zählt für mich als mein Ursprung, mein Herzschlag, mein Idol. Ich liebte das Dorfleben, obwohl ich tagsüber viel Zeit in der Stadt verbrachte, wo ich auf ein privates katholisches Gymnasium ging mit den "Stadtkindern", während es die Dorfjugend auf ein näher gelegenes Gymnasium zog. Viele Nächte verbrachte ich mit meinem älteren Cousin und seinen noch älteren Freunden, die für das Studium höchstens bis nach Aachen gezogen waren, in der Dorfkneipe, dem "Zeus", die eigentlich Jägerhof heißt, aber die jeder nur nach seinem Besitzer nennt. Dort tranken wir mittwochs Bier für einen Euro, häufig mit den Freunden meines Vaters, und philosophierten unseren eigentlich kurzen Weg stundenlang nach Hause. Ich fühlte mich hier immer wohl, aber für mein Studium wollte ich etwas anderes kennenlernen. Ich wollte das Leben in der Großstadt kennenlernen, eine zweite, neue Heimat mit neuen, andersdenkenden Freunden aus ganz Deutschland finden. Ich wollte unabhängig werden. Und bekam einen Studienplatz in Bochum.

Als ich mit meinem Papa durch Bochum lief, musste ich fast weinen. Ich war so dankbar für meinen Medizinstudienplatz, und trotzdem so sauer, dass ich nach Bochum ziehen sollte. Bochum erinnerte mich so sehr an Mönchengladbach. Also verbrachte ich Wochen in Online-Portalen für Studienplatztausche und fand Franziska, die mit mir für ihre große Liebe den Studienplatz von Hamburg nach Bochum tauschte. Hamburg, eine Stadt mit 1,7 Millionen Einwohnern, in der man schräg angesehen wird, wenn man - wie ich - laut loslacht oder freche Kommentare abgibt. Hamburg, eine wunderschöne Stadt, mit Hafen und Alster und Kultur und allem, was Mönchengladbach nicht hat, aber Menschen, die so anders eingestellt sind als ich es war. In Hamburg kostet ein kleines Bier drei Euro (von Mieten will ich gar nicht anfangen), einen Traktor hab ich in fünf Jahren nicht ein einziges Mal gesehen und Schlager kennt man nur vom "Schlagermove", wo niemand hingeht, den ich kenne. Vermutlich ist das eine Erfindung für all jene, die vom Dorf in die Millionenstadt gezogen sind.

Ich vergaß die Heimat kein bisschen. Ich verdrückte ein Tränchen, wenn ich Bilder von Familiengeburtstagen sah, aber bereute es nicht, gleichzeitig durch die Schanze zu ziehen, neue Bars zu erkunden oder an der Elbe ein Alsterwasser zu trinken und sonntags in die Kunsthalle zu gehen. Ich liebte und liebe Hamburg. Ich liebe das förmliche Sie, dessen Du man sich hart erkämpfen muss. Ich liebe das Derbe, von dem alle immer reden. Ich liebe Sonntagsspaziergänge an der Alster. Und ich liebe es, die Leute von hier mit meiner rheinischen Frohnatur zum Lachen zu bringen. Doch ich vermisse es, von anderen diese Frohnatur zu erleben.

Dann fing ich an für jeden Familiengeburtstag und jedes Mal, wenn meine beste Freundin aus der fünften Klasse daheim war, nach Hause zu fahren. Zu jedem Schützenfest. Auf einmal konnten meine Unifreunde aus Frankfurt, München, Berlin nicht verstehen, wieso ich so oft nach Hause fahre, was ich mit den ganzen Schlagern anfangen kann, die ich auf jeder Party um drei Uhr nachts anschmeiße, und wieso ich mit so "einfach denkenden Dorftrotteln" klarkomme, die auf Schützenparaden mit Fake-Gewehren marschieren und danach billiges Bier in Zelten trinken. Ich hörte irgendwann auf mich zu rechtfertigen. Und sagte einfach, dass sie das nicht verstehen können und Hardt schlicht und einfach der schönste Ort der Welt ist. Wo jeder weiß, dass Heimat unabhängig von Schönheit ist, sondern abhängig von Gemeinschaft. Ich meinte es so. Und so ist es zur Tradition geworden, dass meine Freunde aus Hamburg an Karneval zu meiner Familie nach Hardt kommen und Hardt genauso lieben lernten.

Vor drei Jahren haben mein Freund, den ich in der ersten Uni-Woche kennengelernt habe, und ich uns getrennt. Weil wir zu oft gestritten haben. Und zwar darüber, wo wir später hinziehen wollen. Und ich weiß, dass das zu früh ist. Und ich weiß, dass ich da nicht festgelegt sein sollte. Aber wenn ich nunmal darüber nachdenke, wo ich später hinziehen will… dann will ich zurück. Es muss nicht Hardt sein, aber schön fänd’ ich es doch. Vielleicht muss es NRW sein, mir fehlen die Jecken. Mir fehlt das Leichtsinnige. Mir fehlt der Rhein, der nicht annähernd so schön ist, wie die Alster oder der Hafen an der Elbe - aber der so viele Städte verbindet, in denen Leute so denken wie ich. Ich liebe Hamburg, ich bin im Herzen eine halbe Hamburgerin geworden und dennoch: Ich will zurück. Nicht nur an den Rhein, sondern ins Dorf: zum Schützenfest, zum Zeus und zu den "Dorftrotteln", die mit mir so viel mehr gemeinsam haben, als sie inzwischen denken.

Mein Ex wollte lieber nach Zürich, nach Singapur, nach Amerika, nach München ziehen - Hauptsache in einen wunderschönen Ort. Wo es Kulturangebote gibt wie in Berlin, Wetter wie in München, Häuser wie in Hamburg, Berge wie in Zürich, Erfolg wie in Amerika. Und das will ich auch, für ein paar Jahre. Für meine Zwanziger ist Hamburg und jede andere Großstadt, in die es mich noch ziehen wird, perfekt. Jeden Tag lobe ich mir meinen Bochum-Hamburg-Tausch.

Aber wenn ich älter werde und Kinder bekomme, dann will ich, dass sie in einer solchen Gemeinschaft wie in Hardt aufwachsen. Mit ihren Großeltern aufwachsen. Dass sie mit Traktoren zur Schule in die Stadt fahren und stolz darauf sind. Dass sie Schlager schreien können, Mädchen fragen, ob sie sie zum Schützenfest begleiten, in Kneipen sitzen, mit Vätern und Großvätern. Geborgen. Gemeinsam.

Mein Ex konnte das nicht verstehen. Fand das engstirnig, nicht weltoffen. Er sei halt nicht so heimatpatriotisch und fände das auch nicht erstrebenswert. Und ich fand ihn oberflächlich, weil er seine Heimat nach dem Aussehen aussuchte, nicht nach der Gemeinschaft. Ich empfand ihn so, wie meine Dorffreunde mich wahrscheinlich sahen, als ich fürs Studium nach Hamburg zog: undankbar, abgehoben, fast schon familienverräterisch.

Einen Monat nach unserer Trennung haben wir uns wiedergesehen. Und er entschuldigte sich. Er sagte mir, dass es traurig sei, dass er das nicht kenne: an einen Ort zurückziehen zu wollen, weil dort Familie ist. Ja, dachte ich, es ist traurig, wenn man nicht das Gefühl kennt, immer wieder zu einem Ort zurückkehren zu wollen, nur wegen der Gemeinschaft, die dort herrscht. Wenn man das Vertrauen in Menschen nicht hat, dass sie einen noch so unspektakulären Ort zu einem so tollen Zuhause machen können.

Was aus meinen Plänen wird: Ich weiß es nicht. Aber was ihn angeht: Ich wünsche ihm, dass er eines Tages einen solchen Ort findet - vielleicht in den Bergen, vielleicht am Meer, oder vielleicht: bei einem anderen Menschen.

Diesen Text hat die Autorin ursprünglich als Reaktion auf einen Artikel zum Thema Dorfleben in der Wochenzeitung "Die Zeit" geschrieben. Weil dort kein Platz für einen so langen Leserbrief war und uns dieses Heimatplädoyer so berührt hat, druckte es die Rheinsiche Post leicht gekürzt ab.



Entnommen aus der Rheinischen Post, Ausgabe Mönchengladbach, 17. August 2019


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