Rheinische Post - Mönchengladbacher Stadtpost - Donnerstag, 10. Dezember 2020

Abschied von unserer Dorfkneipe

Eigentlich hieß sie "Jägerhof", aber jeder nannte sie nur "Zeus". Unsere Autorin verbindet mit ihr viele Erinnerungen. Nun schließt Hardts "letzte echte Kneipe".


von Pauline Schrammen

(RP). HARDT. "Ich werde dir nun eine Nachricht weiterleiten, die dir nicht gefallen wird", sagt mein Vater Anfang Dezember zu mir. Wir hatten es aber schon gewusst, im Dorf bleibt nichts geheim. Wir hatten es nur nicht glauben können: Der Zeus, unsere Dorfkneipe, die eigentlich Jägerhof heißt, aber die jeder nur nach ihrem Betreiber benennt, schließe zum 8. Dezember. Habe die Pandemie nicht überlebt, der Betreiber könne die Miete nicht mehr mit Einnahmen ausgleichen, hatte man gehört und auch verstanden.

"Ich hab doch grad erst den Artikel mit dem Bild von der Gaststätte in dem neuen Buch "Heimat, Identität und Mönchengladbach" veröfffentlicht", sage ich zu meinem Vater. Der Text zu dem Bild war 2019 in der Rheinischen Post erschienen. Ich hatte das Dorfleben beschrieben, das unabhängig von Schönheit, aber abhängig von Gemeinschaft sei.

"Dann kannst du ja mal einen neuen Artikel schreiben", sagte mein Vater: "Auch die letzte Kneipe in Hardt schließt!" – und damit ein Teil seiner Heimat und auch seiner Identität in Mönchengladbach, vor allem aber auch: eine große Abhängigkeit dieser Gemeinschaft. Ich bin ihm also einen Artikel schuldig für die ganzen Stunden, in denen er und seine Freunde mich vor Ort das Dorfleben haben lernen lassen.

In der Schulzeit ging ich mit Ana, meiner längsten Schulfreundin, mittwochs zum Zeus, da gab es Bier für einen Euro. Manchmal kam der Bus in die Stadt an Freitagen erst in 20 Minuten, so dass immer genug Zeit war, um noch ein Bier vor der Tür zu trinken. An einigen Abenden kehrte ich abends von Feiern aus der Stadt zurück und fand meinen Cousin und seine Freunde dort mit einem riesigen Deckel. Nach allen Dorffesten ist man beim Zeus versackt: Rosenmontag, oder wenn das Schützenfestzelt schon geschlossen hatte, an St. Martin, an den Weihnachtstagen, an Geburtstagen, nach Polterabenden und auch nach Beerdigungen.

"An allen Tagen die auf G enden und mittwochs" gab es mit dem Zeus einen Ort, an dem man Leute traf, ohne sich abzusprechen. Als wir zum ersten Mal über den Dorfbuschfunk gehört hatten, dass es wohl dazu kommen wird, sagte mein Bruder "meine Jugend!", woraufhin mein Vater antwortete: "Mein Leben!"

Mein Vater ist keinesfalls einer von den Kneipengängern, die mittags alleine das erste Bier am Tresen trinken. Er ist einer, der gelegentlich auf dem Heimweg am Abend einen Schlenker vorbei am Marktplatz über die Tomperstraße fährt, um zu schauen, ob seine Schulfreunde dort sitzen. Wenn das, wie so oft, so ist, stellt er das Auto ab und setzt sich dazu, isst vielleicht noch einen Gyrosteller zu Abend. "Morgen bestellen wir mit der ganzen Familie Gyrosteller vom Zeus", verkündet mein Vater nun. "Der Zeus schließt nicht wirklich, oder?" schreibt mir im gleichen Moment Ana.

Gleichzeitig klingelt ein Telefon. "Hallo? (...) Ja, schrecklich! Wir haben alle überlegt, ob man noch was machen kann, aber das Ding ist jetzt durch..", höre ich im nächsten Moment meinen Vater. Gleiches Thema, auch ein lebenslanger Freund am Ende der Leitung. Sie klagen und überlegen, was man dagegen tun kann. "Find ich auch blöd", sagt mein Vater ins Telefon. Eine Abschiedsfeier wird es coronabedingt natürlich nicht geben, steht in der Abschieds-Verkündung.

Im August war ich zuletzt dort gewesen. Ich war spontan aus Hamburg zu meinen Eltern gefahren. Als ich in Hardt ankam verkündete mein Vater, dass er in 20 Minuten beim Zeus mit seinem Freund Lothar verabredet sei, und fragte, ob ich schon gegessen habe. Also gingen wir gemeinsam mit Mama hin und bestellten Gyros mit Pommes, ein Bier nach dem anderen und tranken zwischendurch Ouzo. An jenem lauen Sommerabend des 5. Augusts 2020 saßen wir vor der Kneipe unter der uralten Kastanie, die schon so einige Veränderungen und Geschichten des Dorfes miterlebt hat.

"Kostet das Bier hier während der Pandemie immer noch so wenig? Kira muss die Preise erhöhen, damit die Kneipe Corona überlebt", sagten wir. Aber Kira hob die Preise nicht an, denn auf dem Dorf bleibt immer alles, wie es ist. Deswegen liebt man es ja so. In einer Welt, in der überall alte Geschäfte schließen, neue Restaurants eröffnen, andere wieder schließen und Nachbarn andauern wechseln, löste bereits jede Veränderung der Inneneinrichtung von Kaisers auf dem Dorf Empörung aus - nicht zu vergleichen mit der Empörung, als Kaisers von Edeka ersetzt wurde.

Wir saßen beim Zeus, unterhielten uns, lachten, schwiegen, genossen. "Ich habe Kummer", platzte es auf einmal aus mir heraus und ich erzählte. Gegen 1 Uhr hatten wir alle Ratschläge beisammen: den Moment nicht verpassen, Chancen zu ergreifen; Initiative zeigen; ehrlich zu seinen Gefühlen sein und für das, was man für richtig hält, kämpfen; Angst haben und trotzdem mutig sein; und auch damit okay sein, wenn es nicht so ausgeht, wie man es sich in diesem Moment wünscht; aber ohne Risiko, kein Gewinn.

Meine Mama war inzwischen mit meiner Schwester nach Hause gegangen. Dafür war Ralf, der älteste Schulfreund meines Vaters dazugekommen. Die Männer erzählten mir von den verpassten Chancen ihrer Jugend. Dass das Leben gut gelaufen sei. Aber dass es manchmal natürlich auch anders hätte laufen können, hätte man an manchen Stellen mehr Mut gehabt.

Am Nebentisch saß mein Bruder laut lachend mit seinen Freunden, zwischendurch quatschten wir über die Tische hinweg. Um 2 Uhr nachts tranken wir unser letztes gemeinsames Bier beim Zeus. "Das ist echt toll", sagte Lothar "dass wir hier so sitzen und du deine Probleme mit uns teilst. Das hätten wir mit unseren Eltern nie gemacht!" "Danke, dass ihr euch meine Probleme heute an eurem Männerabend angehört habt", antwortete ich. Wir umarmten uns alle zum Abschied. Umarmungen sind ein hochwertiges Gut in diesen Zeiten.

Damals wusste ich nicht, dass es mein allerletztes Bier dort gewesen sein würde. Dass ich das allerletzte Mal an diesem Ort meine Sorgen aussprechen und hier einen Ort haben würde, an dem generations-übergreifend Menschen zusammen-sitzen und sich voneinander erzählen und dabei voneinander lernen können, sich gegenseitig trösten und miteinander lachen.

"Die letzte richtige Kneipe", sagt mein Vater noch mehrmals heute Abend am Telefon. Heute hat er Kummer und ich kann ihm keine schlauen Ratschläge geben. Ich kann ihm (und mir und dem Rest des Dorfes) nur wünschen, dass irgendwann eine neue "richtige" Kneipe aufmacht - auch wenn es natürlich Jahre dauern wird, um sich an einen Wechsel zu gewöhnen. Aber dennoch brauchen wir auch die nächsten Jahre einen Ort, an dem wir gemeinsam gebrochene Herzen, Todesfälle, Verlobungen und einen ganz normalen Mittwoch verarbeiten können.

Denn das Dorf ist zwar immer noch unabhängig von Schönheit, aber abhängig von Gemeinschaft. Und ein Dorf braucht eine Dorfkneipe, in der die Gemeinschaft zusammenkommt. Denn einsam waren wir 2020 schon viel zu häufig.


Entnommen aus der Rheinischen Post, Ausgabe Mönchengladbach, 10. Dezember 2020



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